Eher ein Neuaufbau als ein Wiederaufbau
Vielleicht gab es auch deshalb in Kassel – im Gegensatz zu ähnlich zerstörten Städten wie zum Beispiel Münster oder Nürnberg – „weniger einen Wiederaufbau als mehr einen Neuaufbau auf altem Grund“, wie es der frühere Stadtarchivar Frank‐Roland Klaube einmal formuliert hat. Hinzugekommen seien „geistige Strömungen, die radikal mit der Vergangenheit brechen wollten“, das heißt mit der fast 600-jährigen Dominanz der Landgrafen und Kurfürsten von Hessen‐Kassel und dann seit 1866 der preußischen Prägung. In dieses Bild passt, dass auch Repräsentationsbauten wie das kurfürstliche Stadtschloss oder die preußische Staatsoper verschwanden.
Stattdessen erstand Kassel im Stil der Moderne. Das wird an Bauwerken mit beispielhafter 50er‐Jahre‐Architektur wie dem Staatstheater oder rund um den Scheidemann‐Platz sichtbar. Und wo vor dem Krieg Häuser der Altstadt standen, bahnten sich bald breite Verkehrsadern einen Weg durch die autogerechte Stadt. Die Überreste des Marstallgebäudes (mit der heutigen Markthalle) wurden erst Anfang der 60er‐Jahre abgeräumt und durch eine freie Neukonstruktion ersetzt. Das Anfang des 18. Jahrhunderts entstandene Orangerieschloss blieb sogar bis 1976 eine Ruine. Die Fassade wurde bis zur Bundesgartenschau 1981 und anschließend das ganze Bauwerk erneuert.
Etwa um diese Zeit wuchs in Kassel der Wunsch, Gewachsenes zu bewahren. So erhielt der zwei Kilometer vom Stadtzentrum entfernte Vordere Westen als eines der ersten Quartiere in Deutschland eine Milieuschutzsatzung. Das um 1900 entstandene Antlitz der Gebäude im Umfeld des Bebelplatzes (mit gründerzeitlichen Elementen bis hin zum Jugendstil) blieb weitgehend erhalten. Längst gehört der Vordere Westen zu den begehrtesten Wohnlagen Kassels.
Beliebte restaurierte Stadtkerne
Heute schätzen viele Menschen in Deutschland das Flair von gemütlichen Altstädten, die die Geschichte von Jahrhunderten widerspiegeln. Gerade im Osten sind ganze historische Stadtkerne restauriert worden, die zu verfallen drohten. Und Frankfurt am Main lässt den zentralen Römer komplett nach Vorbildern vergangener Jahrhunderte gestalten.
Auch in Kassel ist eine Atmosphäre, die Stadtgeschichte atmet, beliebt. Das ist spürbar – ob im Schatten von Zwehren‐ und Druselturm, am Fridericianum, am Ottoneum, auf dem Weinberg, in der Kettengasse, am Kurbad Jungborn in der auf alten Grundrissen wiedererstandenen Unterneustadt und an vielen anderen Orten.